Ich bin Sozialarbeiterin. Soziale Arbeit ist hauptsächlich eine Profession, die alles dafür tut, dass NICHTS passiert. „Prävention“ wird das genannt. Prävention ist eines der Paradigmen – und sollte immer die Basis – für Maßnahmen im Sozial- und Gesundheitssystem sein. Das Prinzip ist einfach: Je eher VORHER was getan wird, damit NICHTS passiert, desto weniger Scherereien hat man SPÄTER. Der Kapitalist würde das so ausdrücken: Es spart ungemein Geld, wenn NICHTS passiert. Better safe, than sorry.
Menschlicher ausgedrückt: Ich überlasse nicht alles und jede*n ihrem* seinem Schicksal: Ich tu eben alles, damit NICHTS passiert. Das ist Handlungsgrundlage für zum Beispiel alle Angebote der sogenannten „Frühen Hilfen“: frischgebackene Eltern werden über Angebote informiert, können sich Unterstützung und Beratung holen, es werden niedrigschwellige Angebote gemacht in denen einfach „nur“ geredet und Erfahrungen ausgetauscht werden können, es werden Unterstützungsnetzwerke gebildet in denen Kinderärzt*innen, Hebammen und Geburtshelfende, Sozialarbeiter*innen, Erzieher*innen, Beratungsstellen, und noch viele mehr beteiligt sind, um passende Angebote zu stricken…Kurz: Alle arbeiten zusammen, dass das Kind und die Eltern gut starten können. Ein guter Start für ALLE Eltern und ALLE Kinder OHNE AUSNAHME. Die Angebote sind also PRÄVENTIV!
Wird dadurch verhindert, dass Eltern von neugeborenen Kindern überfordert sind und sie und das Kind drunter leiden? WAHRSCHEINLICH. VIELLEICHT. EVENTUELL. HOFFENTLICH!
Können wir das GANZ GENAU sagen? NEIN!
Die Krux bei PRÄVENTIVEN Angeboten ist nämlich, dass das Ergebnis schlecht messbar ist. Und es ehrlich gesagt aus ethischen und moralischen und menschenfreundlichen Gründen auch nicht gemessen werden sollte. Weil: Soll man, um den Vergleich zu haben, einfach ein paar Eltern und Kindern Unterstützung zukommen lassen und ein paar anderen nicht – und dann wird am Schluss geschaut, welche Kinder sich gut entwickeln und welche nicht und im Zweifelsfall endet das für manche Kinder tödlich??? ABSURD!
Das heißt also: Alle präventiven Maßnahmen verhindern, dass NICHTS geschieht. Und dieses NICHTS lässt sich nicht bis zur letzten Konsequenz messen. Wir wissen am Ende nicht DEFINITIV, ob die Maßnahmen geholfen haben, ob alle einfach nur Glück hatten, ob das Kind oder die Eltern Superkräfte haben, das Umfeld ein hilfreiches war...(Spoiler: Wahrscheinlich war es ein Zusammenspiel aus allem – aber wer weiß das schon? Die Einflussfaktoren sind zu vielschichtig und komplex um das genau zu sagen.)
Warum schreibe ich das alles?
Ich schreibe das, weil die Idee von PRÄVENTION und die Herausforderungen damit, auf die aktuelle Situation in der Corona-Pandemie und die Kritik an den Maßnahmen zu deren Eindämmung übertragen werden können:
Es wird angesichts der Beschränkungen und Auflagen wild über „Einschränkung von Freiheiten“ und „Entmündigung“ und „Schikane“ diskutiert. „Maskenpflicht – wofür? Die Infektionszahlen gehen doch runter!“ – ich sprach im vorherigen Blogbeitrag davon…
Imre Grimm schreibt in einem Beitrag des RND am 21.05.2020: „Es zeigt sich ein vertrautes Problem von Vorsorgemaßnahmen [PRÄVENTION! Anm. d. Verf.]: Wenn sie wirken, ist der Grund, warum sie ergriffen wurden, nicht mehr zu spüren. Und die Akzeptanz sinkt.“
Wir tragen Masken, halten Abstand, waschen oft die Hände, bleiben Zuhause…damit NICHTS passiert! Mega sozialarbeiterisch by the way (siehe oben)! ;-)
Grimm spricht in Anlehnung an den britischen Epidemiologen Geoffrey Rose vom „Präventionsparadoxon“: „Ausbleibende Schäden sind unsichtbar.“ – Wenn NICHTS passiert, sieht man NICHTS und: NICHTS kann natürlich wieder mal schlecht gemessen werden!
„…das sicherste Zeichen, dass etwas passiert, ist im Falle einer Pandemie ja gerade, dass nichts passiert. Schleichende Erfolge sind immer weniger spektakulär als plötzliche Triumphe. Es gibt keinen kollektiven “Hurra, wir haben es geschafft”-Moment. Für diese Prüfung namens Corona gibt es keine Urkunde und keine Goldmedaille. Keine Instanz wird dem Land jemals bescheinigen können, alles richtig gemacht zu haben.“ – Niemand wird den Bürger*innen bescheinigen können, alles richtig gemacht zu haben: Diese Unsicherheit lässt manche Menschen schnelle Erklärungen und einfache Antworten glauben (Stichwort „Verschwörungs-Mythen“). Grimm schreibt dazu: „Für die politische Kommunikation ist eine ausbleibende Katastrophe fast schwieriger als eine Katastrophe. Ohne sichtbare Schäden fehlen die Argumente.“ Das NICHTS ist weiterhin nicht messbar… „Die Frage, ob Deutschland [mit den Corona-Maßnahmen, Anm. d. Verf.] recht gehabt hat oder einfach Glück, wird wohl unbeantwortet bleiben. Es ist noch so eine Corona-Nebenwirkung, die die Gesellschaft aushalten muss.“
Den vollständigen Artikel findet ihr hier.
Und jetzt: Maske an und Klappe halten, bis ihr bessere Argumente zur Hand habt – oder einfach MIT Maske UND Abstand sprechen: Geht auch! ÜBERRASCHUNG!