Ich war neulich im Büro einer Kollegin. In ihrem Büro füllt eine große Pinnwand die Hälfte der einen Raumseite fast komplett aus. Und die ganze Pinnwand ist leer, bis auf ein einziges Wort: Affidamento!
Ich weiß nicht, ob sie es als Mahnung, als Erinnerungsstütze oder als Apell dort stehen hat, aber es hat mich dazu gebracht, nocheinmal verstärkt über das "Affidamento" nachzudenken.
"Affidamento" ist der italienische Leitgedanke einer feminstischen Theorie, die in den 1970-80er Jahren im Umfeld der Denker*innen des Mailänder Buchlandens entstanden ist und den intalienischen Feminismus stark geprägt hat.
Affidamento ist schwer ins Deutsche zu übersetzen und es ist auf einem ganzen Theoriegerüst begründet, das ebenso schwierig ist in ein paar wenige Sätze zu verpacken. Schlussendlich ist Affidamento zum einen Kritik an patriarchalen Strukturen und damit einhergehend auch Kapitalismuskritik: Es wird davon ausgegangen, dass die Freiheit von Frauen* dadurch erreicht werden kann, wenn nicht in den "männlichen Denkweisen" gedacht wird und kein "männliches Verhalten" angestrebt wird, um strukturelle Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern zu erreichen. Ein neues "weibliches Denken" führt zur Freiheit für und von Frauen*.
Es ist keine Haltung "gegen Männer*", sondern einfach eine Haltung "für Frauen*": Frauen* sollen sich gegenseitig achten und unterstützen, egal was das Begehren einer einzelnen Frau* ist. Wenn Frauen* es schaffen, ihre Anliegen und Begehren frei äußern zu können und sich anderen Frauen* anvertrauen, die aufgrund ihrer Ressourcen und aus Respekt unterstützen und vermitteln können (ohne Konkurrenzdenken oder aus Mitleid), dann entsteht weibliche Freiheit.
Die Störenfriedas beschreiben das so: Frauen* "sind unterschiedlich, wir haben unterschiedliche Stärken und kommen aus unterschiedlichen Hintergründen. Genau das ist eine Stärke. Wenn wir diese erfolgreich einbringen wollen, müssen wir uns gegenseitig vertrauensvoll unterstützen. Es muss Raum geben für das Persönliche ohne dass es zur Bedrohung für die anderen wird. Wir müssen ein Netz weben, das stark genug ist, der Differenz untereinander darin Platz zu geben und das dadurch an Qualität und Quantität gewinnt."
Was heißt das für mich? - Das ist tatsächlich etwas, dass ich momentan im Alltag ausprobiere: In kleinen, tastenden Schritten und mit geschärfter Wahrnehmung: Wie gehe ich mit anderen Frauen* um? Was sind meine Gedanken über andere Frauen*? Kenne ich "Affidamento-Beziehungen"? Was macht es mit mir, wenn "Affidamento-Beziehungen" entstehen? Wie kann ich solche Beziehungen in meinem Umfeld fördern? Wie kann ich selbst es schaffen, mich anderen Frauen mit meinen Anliegen anzuvertrauen? Welche Mechanismen und sozialisatorisch geprägten Denkweisen verhindern bei mir, dass "Affidamento-Beziehungen" entstehen können?...